"Sie vertrauen dir und legen das Wichtigste in deine Hände: ihre Gesundheit" – Turbine Potsdams Physio Jess Viehweger im ZOCCER-Interview

Potsdam – Ohne sie wäre Leistungssport einfach nicht möglich. Und doch finden sie in der Öffentlichkeit selten die ganz große Beachtung. Physiotherapeuten sind wie viele andere Menschen in einem Verein Helden im Hintergrund. Jessica Viehweger von Turbine Potsdam ist so eine Physio-Heldin. Eine Heilerin. Eine Quälerin. Eine Zuhörerin. Eine Mutmacherin. Eine Trainerin. Eine Motivatorin. Eine Hoffnungschenkerin. Eine Partnerin in Crime. Wir haben mit ihr über ihre eigene Geschichte, den Alltag beim Frauenfußball-Bundesligisten, große Verantwortung und Tipps für Jungprofis gesprochen. Und, was wäre eigentlich, wenn ...


ZOCCER: Hey, Jess! Für alle, die dich noch nicht so gut kennen, stell dich doch einfach mal vor.

Jess: "Hi, ich bin Jessica Viehweger, 26 Jahre alt und komme ursprünglich aus Meerane in Sachsen. Seit sechs Jahren ist Potsdam meine zweite Heimat. Früher habe ich Volleyball beim SSV Lichtenstein gespielt. Aber seit ich laufen kann, spiele ich eigentlich auch schon Fußball. Mit dem Chemnitzer FC bin ich 2011 in die Regionalliga aufgestiegen. Erst war ich Offensivspielerin, später auch noch Außenverteidigerin. Zu den Highlights meiner aktiven Laufbahn zählt die Saison 2011/2012. Da wurden wir mit dem CFC Deutscher Beachsoccer-Meister. Im Jahr darauf dann nochmal Vize-Meister. Ist das okay so?" (lacht)

 

ZOCCER: Ja, klar. Das ist schon wow und klingt echt gut. Aber wie kamst du dann zur Physiotherapie?

Jess: "Naja, eigentlich wollte ich immer Sport studieren und Lehrerin für Sport und Englisch oder Französisch werden. Am Ende hat das aber nicht geklappt, also musste ich mir etwas Anderes suchen. Irgendetwas, das auch mit Sport zu tun hat. Da kam mir der Beruf Physiotherapeutin in den Sinn. Das hat funktioniert und so, wie es jetzt ist, bin ich glücklich."

 

ZOCCER: Was auch an deiner Arbeit bei Turbine liegt, oder? Wie lange bist du jetzt schon beim 1.FFC?

Jess: "Genau so ist es. Seit 2013 bin ich hier, diese Saison ist also meine sechste."

 

ZOCCERAußenstehende denken bei „Physiotherapeut/in“ noch immer, dass ihr „nur ein bisschen massiert". Die Realität sieht komplett anders aus. Was gehört denn alles zu deinem gesamten Aufgabenfeld?

Jess: (lacht) "Ui, wo fange ich da jetzt an? In erster Linie ist meine Hauptaufgabe die physiotherapeutische Behandlung. Ansonsten absolvieren die verletzten Spielerinnen bei mir auch ihre Reha. Dazu gehört: Krafttraining, Stabitraining, Mobilisation und Dehnung, Aquajogging, Aquafitness und auch Cardiotraining. Außerdem kümmere ich mich um organisatorische Dinge, wie Materialbestellungen für unsere medizinische Abteilung. Oder wie die Arzttermine der Mädels, dass sie sich damit nicht auseinandersetzen müssen. Ich plane die Therapien für angeschlagene und verletzte Spielerinnen. Physiotherapeutin sein, bedeutet viel, viel mehr als nur zu massieren. Man ist quasi die Mutti für alles. Vertrauensperson. Die Spielerinnen legen dir das Wichtigste in deine Hände: ihre Gesundheit. Das ist eine riesengroße Verantwortung, die man da hat. Außerdem, wenn die Mädels Frust oder Kummer haben, können sie jederzeit zu mir kommen und darüber reden. Andersrum ist das aber auch so, wenn ich mal ein offenes Ohr brauche, sind die Mädels auch für mich da. Nach sechs Jahren haben sich viele enge Freundschaften entwickelt. Darüber bin ich auch sehr froh und dankbar."

 

ZOCCER: Diese Freundschaften gehören zu den schönen Dingen deines Jobs. Was liebst du noch an deinem Beruf und was, naja, ist eher mau?

Jess: "Ich mag die Vielfältigkeit. Klar ähneln sich die Therapien an sich, aber jeder Mensch ist als Individuum zu sehen und bei jedem ist alles anders. Das ist spannend. Ich mag auch die Bandbreite an Therapien. Manuelle Therapien – also Krankengymnastik, Massagen, Lymphdrainagen und so weiter – machen mir genauso viel Spaß, wie die aktiven Therapien wie Kraft- und Stabilisationstraining, Aquafitness, Gruppen- und Entspannungstherapien. Es gibt viele tolle Bereiche und Dinge als Physiotherapeut. Natürlich macht auch nicht immer alles Spaß. Das ist doch in jedem Job so. Ärgerlich finde ich es aber, dass die Kosten für Weiterbildungen so enorm sind. Das kann schon frustrieren."  

 

"Das Größte ist für mich, wenn eine meiner Schützlinge nach einer langen Verletzung auf den Platz zurückkehrt." – Jessica Viehweger

 

ZOCCER: Verständlich. Besonders, wenn man ehrgeizig ist und weiterkommen möchte. Wie hart arbeitest du dafür? Wie sieht dein normaler Tag bei einem Profi-Team wie Turbine aus?

Jess: "Puh, das ist ziemlich schwierig, da der Wochenanfang anders abläuft als der Rest der Woche. Man muss dazu sagen, dass ich neben der ganzen Arbeit bei Turbine meinen Chef Thomas Schultz an zwei Tagen in der Woche in der Praxis unterstütze. Grundsätzlich ist es aber so, dass montags alle Spielerinnen ausbehandelt werden, sodass ich von Früh an bis spät abends den ganzen Tag an der Physiobank stehe. Den Rest der Woche habe ich ziemlich viel Abwechslung dabei, da ich – wie schon gesagt – ja noch die Reha-Einheiten betreue. Was natürlich auch bedeutet, dass ich von Früh bis Abend vor Ort bin. Mittwochs steht neben den Behandlungen der Spielerinnen noch drei Mal Reha auf dem Plan, sprich eine Stunde Stabilisations- und Mobilisationstraining, Cardio und Aqua, sowie abends dann eine Krafteinheit. Mir wird also nie langweilig." (lacht)

 

ZOCCER: Glauben wir gern. Aber für was machst du das alles eigentlich? Für die Spielerinnen ist ein Tor zu schießen – beziehungsweise für die Torhüterinnen eine 100-prozentige Bude zu verhindern – das Allergrößte. Was ist dein Tor oder deine Glanzparade?

Jess: "Für mich ist es das Größte, wenn eine meiner Schützlinge, also eine verletzte Spielerin – vor allem Langzeitverletzte –, den ersten Schritt wieder auf den Rasen setzt. Es ist ein unglaublich tolles und bewegendes Gefühl, wenn eine verletzte Spielerin endlich wieder spielen kann, da man mit ihr alles durchlebt. Man sieht und weiß genau, wie viel Kraft, Schweiß, Schmerzen und Tränen sie investiert hat, um wieder zurückzukommen."

 

"Ich glaube nicht wirklich, dass der Trainer bei Personal-Not an mich denken würde. Schon gar nicht nach meiner läuferischen Präsentation im Trainingslager." – Jessica Viehweger

 

ZOCCER: Apropos: Zurück auf den Rasen kommen. Hand aufs Herz, Jess: Kribbelt es nicht in den Füßen, wenn du deine Mädels zoccen siehst? Willst du da nicht am liebsten mitspielen? Und was wäre, wenn Turbines Coach Matthias Rudolph mal wirklich Personal-Not hat, wärst du bereit? Hättest du Bock?

Jess: "Natürlich kribbelt es und ich habe oft Lust, mal wieder richtig mitzuspielen, leider fehlt dazu einfach die Zeit. Außerdem kann ich bei den Mädels einfach nicht mithalten. Wenn ich mal bei einer kleinen Sache mitspiele, trage ich, denke ich, eher zu Belustigung der Mädels bei. (lacht) Selbst bei personellen Problemen haben wir sehr gute Fußballerinnen in unserer zweiten Mannschaft, die Herr Rudolph dann ins Team berufen könnte. Ich glaube nicht, dass er da an mich denken würde, schon gar nicht nach meiner läuferischen Präsentation im Trainingslager." (lacht)

 

ZOCCER: Okay, also werden wir dich auch in den nächsten sechs Jahren wohl nicht aktiv auf dem Platz sehen. Dann eben nochmal zurück zu den letzten sechs Jahren bisher bei Turbine als Physio. Was ist dir in der Zeit aufgefallen? Gibt es Verletzungen, die besonders oft auftreten?

Jess: "Ja, definitiv. Frauen sind grundsätzlich viel verletzungsanfälliger als Männer. Das ist anatomisch bedingt. Besonders auffällig sind die häufigen Kreuzbandverletzungen. Frauen haben ein viel schwächeres Bindegewebe, Außerdem haben sie ein breiteres Becken und neigen zu einer vermehrten Innenrotation in der Hüfte und einer verstärkten X-Bein-Stellung. Während Belastungen wie bei Sprüngen oder schnellen Richtungswechseln wirken erhöhte Kräfte auf das Kniegelenk ein, was durch die Beinachsenstellung noch verstärkt wird. Auch kann man feststellen, dass Frauen bei Sprüngen oft aufrechter landen, was den Stress auf das vordere Kreuzband ebenfalls erhöht. Abseits der Kreuzband-Geschichten ist auffällig, dass über die Jahre hinweg immer mehr muskuläre Verletzungen aufgetreten sind. Das liegt an der stetig ansteigenden Belastung. Immer mehr Wettkämpfe müssen die Mädels absolvieren. Die Ruhephasen werden immer kürzer, auf und neben dem Platz. Das Spiel wird immer schneller, athletischer und fordert den Mädels auch mental viel mehr ab als noch vor ein paar Jahren." 

 

ZOCCERWie kann man da drohenden Verletzungen vorher schon entgegenwirken?

Jess: "Einen Masterplan gibt es da leider nicht. Man kann das Risiko nur minimieren. Es ist deshalb elementar wichtig, viel im präventiven Bereich zu arbeiten. Dazu gehört Krafttraining, gerade in den Vorbereitungszeiten, um Muskulatur aufzubauen. Beziehungsweise in der Saison die Muskulatur zu festigen und für die maximale Belastung, den Wettkampf, vorzubereiten. Außerdem sind auch ausreichende Regenerationszeiten wichtig. Die muss man sich wirklich nehmen. Der Körper braucht Ruhe, muss vom Stress abschalten können. Die meisten Unfälle und Verletzungen passieren, weil der Körper übermüdet oder überlastet ist und es zu unkontrollierten Bewegungen kommt."

 

"Bei einer schweren Verletzung gilt immer: Ruhe bewahren, nicht verzweifeln und das trainieren, was noch geht." – Jessica Viehweger

 

ZOCCER: Wir haben viele junge Spieler/innen, die uns auf unseren Social-Media-Kanälen folgen. Immer wieder bekommen wir leider auch mit, dass sie sich schwer verletzen. Einige von ihnen schreiben uns auch und wollen unseren Rat hören. Was kannst du jemandem empfehlen, der zum ersten Mal mit einer schweren Verletzung zu kämpfen hat?

Jess: "Es ist ein schwieriges Thema. Wie schon gesagt, jeder Mensch und Körper ist anders. Aber wichtig ist, dass man selbstständig ist und immer ein bisschen mehr macht, als von einem erwartet wird. Ohne dabei zu viel zu wollen und zu übertreiben. Man sollte sich täglich um seinen Körper kümmern. Ausrollen auf der Blackroll, Dehnungsübungen, Stabi- und Mobilisationsübungen gehen immer und sollten fest in den Tagesablauf eines Sportlers miteingebaut sein. Das gilt für gesunde und verletzte Spieler. Generell gilt aber, selbst bei einer ganz schweren Verletzung, erst recht wenn es die allererste ist: Ruhe bewahren. Nicht verzweifeln und das machen, was geht. Sind die Beine verletzt, kann man den Oberkörper trainieren. Und andersrum. Irgendwas geht fast immer. Nur nicht den Kopf hängen lassen. Verletzungen gehören zum Sport dazu."

 

ZOCCER: Zahlreiche Talente, die vom Nachwuchs in den Erwachsenen-Bereich wechseln, verletzen sich in den ersten Monaten. Der Grund ist oft die höhere physische und psychische Belastung. Hast du ein paar Tipps, wie der Übergang in den Erwachsenen-Fußball gelingen kann ohne nervige Verletzungen?

Jess: "Natürlich kann man präventiv viel machen, das liegt vor allem in der Eigenverantwortung der Spieler/innen. Sie müssen sich bewusst sein, dass ihr Körper unter besonderem Stress nach dem Übergang in den Erwachsenen-Sport steht. Also heißt es Pflege und gewissenhafter Umgang mit dem eigenen Körper. Dazu zählen die schon erwähnten Dinge, wie die Blackroll, Stabi- und Mobilisationsübungen, Krafttraining. Andereseits ist es aber auch wichtig, dass die Trainer darauf ein besonderes Augenmerk legen. Klar, die Spieler/innen sind jung und leistungsfähig, sollten aber trotzdem eine gewisse Anpassungszeit an die höheren Anforderungen bekommen. Einfach immer volle Pulle blind drauftrainieren, schadet mehr, als es einem jungen Sportler hilft."

 

ZOCCER: Helfen ist ein gutes Stichwort. Immer wieder sieht man Fotos auf denen Sportler mit bunten "Kunstwerken" am Körper herumlaufen. Die Kinesio-Tapes. Wofür sind die genau und bringen die überhaupt etwas? Oder ist das eher so ein Kopf-Ding à la „Placebo-Effekt“?

Jess: "Meiner Meinung nach ist es Beides. Mit verschiedenen Anlagetechniken kann man Einiges erreichen. Zum Einen kann man ein Gelenk gut stabilisieren, Muskulatur entspannen oder auch erreichen, dass der Muskel aktiviert wird. Allerdings muss man auch sagen, dass so ein Tape auch eine psychologische Wirkung hat. Aber auch das ist wichtig, da die Psyche eine enorme Rolle im Heilungsprozess und im Leistungssport spielt. Wir kennen doch alle den Spruch: „Wer heilt, hat Recht“. Also ist es völlig egal, ob so ein Tape wirkt oder ob es einen Placebo-Effekt hat, Hauptsache es hilft und lindert die Beschwerden." 

 

ZOCCER: Richtig, darum geht's. Und um den Spaß, deshalb wollen wir zum Abschluss noch wissen, ob du als Physio mal eine ganz besondere/witzige Geschichte erlebt hast.

Jess: "Da gibt es eine ganze Menge. Mit meinen Mädels erlebe ich jeden Tag lustige und verrückte Geschichten. Für jede einzelne bin ich dankbar und freue mich auf noch ganz viele weitere. Aber die behalte ich dann doch lieber alle für mich." (lacht) 

 

ZOCCER: Einverstanden, Jess. Darfst du auch. Wir sind dir dankbar für deine Tipps und das coole Interview.

 

Interview:

Steven Jahn
Fotocredits:

Ganz lieben Dank an Mirko Kappes von www.footograph.de (Instagram: @footograph) für die Bereitstellung der Fotos von Jess bei der Arbeit für Turbine. Die ZOCCER-Fotos von Jess stammen vom Interviewer.

DER STECKBRIEF

Name Jessica Viehweger
Spitzname Jess, Jessi
Geburtstag  23. Juni 1992 (26 Jahre)
Geburtsort Meerane
Verein 1.FFC Turbine Potsdam
Position Physiotherapeutin
Liga Allianz Frauen-Bundesliga
Vereine als Spielerin Chemnitzer FC
Position als Spielerin Offensives Mittelfeld
Höchste Liga als Spielerin Regionalliga (3. Liga)
Erfolge als Spielerin Deutsche Beachsoccer-Meisterin 2012
Aufstieg in die Regionalliga 2011
Instagram @jessicaviehweger

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Nani (Donnerstag, 06 Dezember 2018 22:10)

    Good job teenie :*

  • #2

    Maya (Freitag, 07 Dezember 2018 18:22)

    Supi Interview mit Jessica .. sehr interessant und mit tollen Tipps .. Dankeschön Zoccer !

    Lg aus Bremen